Mittwoch, 18.05.2022
Die Welt ordnet sich neu
Sechs Thesen zu den mittelfristigen Folgen des Ukraine-Kriegs für Wirtschaft und Kapitalmärkte
Der Krieg in der Ukraine bewirkt in Deutschland, Europa und auf dem gesamten Globus tiefgreifende Veränderungen. Von einer Zeitenwende ist die Rede, in der sich die Welt neu sortieren muss. So stehen im Moment die eigene Sicherheitspolitik, eine stabile Energieversorgung und die Wahl zuverlässiger Geschäftspartner ganz oben auf der To-do-Liste der Bundesregierung. Jeder Punkt für sich ist eine große Herausforderung, die nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa im Wettlauf mit der Zeit zu bewältigen hat. Wie könnten die Veränderungen aussehen und welche Auswirkungen werden sie auf die Geldanlage haben? In sechs Thesen haben wir die wichtigsten Aspekte zusammengetragen und ein Bild der mittel- bis langfristigen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Wirtschaft und die Kapitalmärkte skizziert.
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These 1: Die Globalisierungsidee wird ausgemustert
Blicken wir dreißig Jahre zurück: Die Sowjetunion löste sich auf, der Kalte Krieg war beendet. Der Welthandel und ausländische Direktinvestitionen stiegen stark an und lange Lieferketten durch eine Vielzahl von Ländern entstanden. Die wirtschaftliche Globalisierung nahm ihren Lauf: Getragen von Vernetzung und gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen – unabhängig von den jeweiligen politischen Systemen der Handelspartner. So wurde für den Exportweltmeister Deutschland das autoritäre China zu einem der wichtigsten Handelspartner und von Russland wurden existenziell wichtige Rohstoffe in großem Stil gekauft. Ob demokratisch oder autokratisch, die ökonomischen Aspekte standen bei den Beziehungen im Vordergrund. Gegenseitige Abhängigkeiten – so war die Idee – halten die (Geschäfts-)Beziehungen der Nationen in einer gesunden Balance.
Das ist nun vorbei: Die Politik greift wieder verstärkt in das nationale und internationale Wirtschaftsgeschehen ein und die regionalen Sicherheitsaspekte werden vor die wirtschaftlichen Interessen gestellt. Die Neuordnung wird eine Rolle rückwärts vor das Jahr 1990 machen: Großmachtwettbewerb statt Globalisierung. Im Zentrum dieses Wettbewerbs stehen die USA und China. Russland hingegen dürfte als absteigende Großmacht eher die Rolle des Störenfrieds einnehmen und muss vor allem als Sicherheitsrisiko bewertet werden. Europa steht enger als je zuvor zusammen, und die Bindung an die USA wird wieder stärker. Andere Länder loten ihre Möglichkeiten zwischen Abhängigkeit und Neutralität aus.
Für den Kapitalmarkt bedeutet das Ende der Globalisierung, dass sich die Vorteile internationaler Arbeitsteilung reduzieren werden. Bis sich die neuen Spielregeln etabliert haben, wird man an den Kapitalmärkten mit höheren Schwankungen und Risiken rechnen müssen.
These 2: Neuordnung schafft steigende Wachstums- und Inflationsraten
Nach der Corona-Pandemie offenbart nun auch der Krieg, dass globaler Handel Abhängigkeiten und Risiken schafft. Während die Pandemie zeigte, dass internationale Lieferketten anfällig sind, legt der Krieg in der Ukraine schonungslos offen, dass wirtschaftliche Abhängigkeiten erpressbar machen. Es wird im Westen daher in nächster Zeit verstärkt darum gehen, Handelsbeziehungen zu Ländern aufzubauen, die politisch und auch geografisch naheliegend sind. Diese Umbruchsituationen setzen in der Regel innovative Kräfte frei, die zu mehr Produktivität und damit auch zu steigendem Wirtschaftswachstum führen. Beispielsweise muss jetzt schnell viel Geld in regionale Produktionsstätten investiert werden. In bestimmten Bereichen wird es allerdings zu Angebotsengpässen kommen, weil der Ausbau der Kapazitäten in der Regel mehrere Jahre dauert, etwa bei einigen Rohstoffen.
Mittelfristig bedeutet dies, dass parallel zur wachsenden Wirtschaft die Inflation weiter steigt. Die aktuellen Stagflationstendenzen – also kein oder kaum Wachstum bei steigenden Preisen – sollten daher nur ein vorübergehendes Phänomen sein. Höheres Wachstum und Produktivitätszuwächse lassen die Unternehmensgewinne steigen. Aktien sollten davon entsprechend profitieren.
These 3: Der Weg zur Klimaneutralität wird anders verlaufen
Eine komplette Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern wie Rohöl und Gas ist kurzfristig nicht möglich und mittelfristig eher unwahrscheinlich. Verschiedene Möglichkeiten müssen genutzt werden, um die Energiesicherheit zu gewährleisten: So werden Energierohstoffe beispielsweise zunehmend von anderen Ländern wie den USA geliefert. Das macht Investitionen in eine neue Infrastruktur nötig, um die Energie zu den Verbrauchern zu bringen. Ebenfalls werden wir bestehende Möglichkeiten der Energiegewinnung – zum Beispiel Kohle oder Atomkraft – länger als geplant weiter nutzen. Und parallel dazu wird sich der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen – beispielsweise durch die Förderung technischer Innovationen wie grünem Wasserstoff. Energiesparmaßnahmen dürften zusätzlich auf den Weg gebracht werden. Allerdings bekommt die Energiewende durch die längere Nutzung der fossilen Energie zunächst einen Dämpfer. Doch die höheren Preise für fossile Energie, insbesondere Gas, machen Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien erst jetzt richtig attraktiv – vor allem für energieintensive Unternehmen. Langfristig kann das sogar zu einer Beschleunigung der Energiewende führen und Europa könnte schneller als geplant die Klimaneutralität erreichen.
Kurz- und mittelfristig dürfte zunächst vor allem die US-Energiewirtschaft boomen, da sie übergangweise die europäischen Lücken bei fossiler Energie füllen wird. Profitieren werden auch die Hersteller von Infrastruktur für die Gas- und Ölindustrie sowie für erneuerbare Energien.
These 4: Europa und der Westen rücken enger zusammen
Nach der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre wurde häufig über ein Auseinanderbrechen der EU spekuliert. Die Reaktion auf den Ukraine-Krieg war aber eindeutig: Europa rückt enger zusammen, tritt geschlossen auf und intensiviert wieder das transatlantische Bündnis mit den USA. Die Vorteile gemeinsamen Handelns und Wirtschaftens treten wieder stärker in den Vordergrund: Europa ist gut beraten, beispielsweise bei Energielieferanten seine Einkaufsmacht zu bündeln – statt gegenseitig in Konkurrenz zu treten und so die Preise unnötig weiter nach oben zu treiben.
Die Erhöhung seiner strategischen Unabhängigkeit und Verteidigungsfähigkeit wird Europa viel kosten. Diese Investitionen müssen finanziert werden. Eine gemeinsame EU-Steuerpolitik und eine Kapitalmarktunion Europas rücken verstärkt ins Blickfeld. So oder so dürfte die EU mehr Anleihen ausgeben. Und direkte Zuschüsse für Investitionsvorhaben (statt reiner Kredite) werden wie beim Wiederaufbaufonds – dem großen Konjunkturpaket im Zuge der Corona-Krise – zunehmend eine wichtige Rolle spielen. Branchen, die von den Investitionen profitieren dürften, sind Verteidigung, Energie und Digitalisierung.
These 5: China gerät unter Druck
Aufgrund der umfassenden Sanktionen des Westens wegen des Ukraine-Kriegs wird sich Russland ökonomisch verstärkt China zuwenden. China muss sich daher schneller als gewollt eindeutig positionieren, das heißt, sich zügiger vom Westen abkoppeln und eigene Pläne verschieben. Denn das Reich der Mitte hat durch die Reaktionen des Westens auf den Angriffskrieg in der Ukraine einen Vorgeschmack darauf bekommen, was passieren könnte, wenn es das demokratische Taiwan annektiert. China kann derzeit allerdings keine harten Sanktionen riskieren. Vor allem in der Hochtechnologie, wie zum Beispiel im Halbleitersektor, ist das Land auf ausländische Importe angewiesen. Zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit zählt auch eine Entkopplung vom globalen Finanzsystem, wie der Aufbau eines eigenen Zahlungssystems sowie der Abbau von Fremdwährungsreserven. Da der Westen bis dato wichtigster Abnehmer chinesischer Exporte ist, steht China in puncto Unabhängigkeit noch ein weiter Weg bevor.
Westliche Konzerne dürften ihr Chinageschäft vor dem Hintergrund dessen, was gerade in Russland passiert, nun mit anderen Augen sehen. Die harten Sanktionen gegen Russland haben gezeigt, wie schnell Direktinvestitionen wertlos werden können. Immer mehr Unternehmen ziehen sich – auch unter hohem öffentlichem Druck – komplett aus Russland zurück. Ein ähnliches Szenario ist grundsätzlich auch für den Wirtschaftsstandort China denkbar. Für Investoren bedeutet das: Konzerne mit großem direktem China-Engagement werden zunächst mit einer Risikoprämie belegt. Käme es zu einer Eskalation in Taiwan, könnten auch chinesische Aktien vorübergehend nicht handelbar und damit für ausländische Investoren praktisch wertlos sein. Die aktuellen Russland-Sanktionen entziehen zudem einzelnen Unternehmen, etwa Banken, die Geschäftsgrundlage. Käme es in China (sanktionsbedingt) zum Zahlungsausfall einzelner Unternehmen oder des gesamten Landes, wären auch Anleiheinvestoren betroffen.
These 6: US-Dollar verliert als Weltreservewährung langfristig (etwas) an Bedeutung
Die Notenbanken aller Länder halten in der Regel Finanzreserven in ausländischen Währungen vor, um unabhängig vom Wert der heimischen Währung international handeln zu können. Der US-Dollar ist hier sehr beliebt und nimmt im globalen Finanzsystem der Devisenreserven mit 59 Prozent (im Jahr 2020) die tragende Rolle ein, gefolgt vom Euro mit 21,2 Prozent.
Russland kann derzeit aufgrund der Sanktionen nur teilweise über seine Devisenreserven verfügen. Denn ein Teil der russischen Währungsreserven wurde eingefroren. Zudem wurden mehrere russische Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen. Die Botschaft hinter den harten und schnellen Sanktionen ist auch für andere Länder deutlich: In einem Konflikt mit dem Westen sind Devisenreserven in westlichen Währungen im Zweifelsfall wertlos. Der US-Dollar, aber auch der Euro, der Japanische Yen und das Britische Pfund dürften damit zumindest für das eine oder andere Land mittel- bis langfristig als Weltreservewährungen an Bedeutung verlieren. Potenzielle Konfliktparteien – und zu denen gehört auch China – werden sich verstärkt nach Alternativen umsehen. Aktuell ist allerdings noch keine in Sicht. Beispiel Gold: Das Edelmetall erfüllt zwar die Anforderung als Wertaufbewahrungsmittel. Allerdings kann es das Edelmetall mit Blick auf Liquidität und Marktgröße bei Weitem nicht mit dem US-Dollar aufnehmen. Und: Die G7-Staats- und Regierungschefs wollen als Verschärfung der Sanktionen auch den Goldhandel der russischen Zentralbank unterbinden. Eine schnelle Abkehr von der US-Währung ist über diesen Kanal also nicht möglich. Dennoch dürfte Gold mittelfristig deutlich profitieren. Ebenfalls dürfte die Einführung digitaler Zentralbankwährungen beschleunigt werden. Und, um beim Beispiel China zu bleiben, das Land könnte darauf drängen, beim Rohstoffhandel vermehrt die eigene Währung zu nutzen.
In Summe wird die Bedeutung des US-Dollars langfristig zumindest etwas abnehmen, ebenso wie die Wirksamkeit von Finanzsanktionen. Profitieren dürften Alternativen zum US-Dollar und zu weiteren westlichen Devisen. Neben Gold und Kryptowährungen trifft dies auch auf den Chinesischen Renminbi zu, dessen Rolle etwa im Rohstoffhandel gestärkt würde.
Neuordnung im Depot
Es zeichnet sich das Bild einer neuen politischen und ökonomischen Weltordnung ab. Auf dem Weg dorthin wird es in der Realwirtschaft und an den Finanzmärkten Gewinner und Verlierer geben. Für die Kapitalmärkte wird der Übergang in jedem Fall von deutlich erhöhter Schwankungsintensität geprägt sein. Wichtig für den Anleger ist die konsequente Beobachtung der Märkte, um gegebenenfalls handeln zu können und die Anlagen an Veränderungen anzupassen. Investoren können sich nicht einfach zurücklehnen. Vielmehr verlangt die Zeitenwende, in der wir uns befinden, aktives Handeln und eine breite Streuung der Anlagen. Falls Sie in Investmentfonds anlegen: Die Fondsmanager von Union Investment sind Profis mit jahrzehntelanger Erfahrung. Sie werten immer wieder die neuesten Ereignisse aus und passen die jeweilige Zusammensetzung der Fonds – soweit es zu den Anlagerichtlinien des Fonds passt – aktiv an. Wenn Sie Einzelaktien oder andere Anlageformen besitzen oder Ihre Geldanlage mit Blick auf die neuen Gegebenheiten an den Kapitalmärkten überprüfen und anpassen möchten, sprechen Sie mit Ihrem Berater aus der genossenschaftlichen Bankengruppe.
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Wo endet die Abwärtsspirale? ... Hoffentlich in einer neuen globalen Wirtschaftsverfassung für die Realwirtschaft, um mit marktwirtschaftlichen Methoden geophysikalische Transfers so zu steuern, dass wir keine Kipppunkte in der Natur auslösen.
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